Psychotherapie kann mehr!

Menschlich ist das, was anderen Menschen hilft zu leben und das, was in ihnen liegt, zu entfalten. Man kann das auch eine Form von Liebe nennen. Der Weg dorthin gelingt durch den Abbau von Angst, durch zuhören und nicht-bewerten, mit Geduld und Verständnis, das Gegenteil von „Daumen hoch und Daumen runter“ – Eugen Drewermann in: „Unterwegs im weiten Land. Gespräche über die Psyche“.

Katja Giebner im Gespräch mit Wissenschaftsjournalistin und Buchautorin Dagmar Weidinger
Katja Giebner: Frau Weidinger, Sie haben eben ein Buch herausgegeben, das den Titel trägt „Unterwegs im weiten Land. Gespräche über die Psyche“. Als Psychotherapeutin macht mich das neugierig. Worum geht’s?

Dagmar Weidinger: Es handelt sich um eine Sammlung von 19 Gesprächen, die ich seit 2014 mit Expertinnen und Experten aus dem Psy-Bereich führen durfte. Als Wissenschaftsjournalistin ist mir früh aufgefallen, dass Psy-Journalismus zuweilen recht einseitig darauf abzielt, PsychotherapeutInnen und PsychologInnen nach Krankheiten, Diagnosen oder speziellen Behandlungstechniken abzufragen. Sicherlich immer mit dem gut gemeinten Ziel, Leserinnen und Lesern mehr Informationen an die Hand zu geben, wie sie selbst an ihrer Resilienz arbeiten können. Wird das jedoch einseitig verstanden oder auf die Spitze getrieben, trägt diese Form von Berichterstattung leider dazu bei, dass sich Menschen nur noch allein für ihre Psyche verantwortlich fühlen. Das ist aber nicht die Realität. In meinem Buch spricht die feministische Beraterin Bettina Zehetner auch von der „Privatisierung der Schuld“. Das alles passt natürlich zum omnipräsenten Trend der Selbstoptimierung. Ich finde, psychotherapeutisches Wissen kann viel mehr! Genau davon berichten meine Gesprächspartnerinnen und -partner.

Inwiefern?

Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wissen, wie ein gutes Leben mit stimmigen Beziehungen aussehen kann. Ein nachhaltiges Leben, das in Einklang mit der Umwelt steht. Dieses Wissen könnte helfen, die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen – Stichwort Pandemien, Klimakrise, gesellschaftliche Spaltung zu meistern. Darum geht es mir in meinem Buch. Psychotherapeutisches Wissen in Dialog zu bringen mit Politik, Kultur, Wirtschaft und Spiritualität beziehungsweise Religion.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ich wollte zum Beispiel die bekannte Gefühlslehrerin Verena Kast nicht nur zu Freude und Ärger befragen. Mich hat es interessiert, was sie zu aktuellen Flüchtlingsbewegungen sagt oder zur Möglichkeit, unsere Arbeitswelt so umzugestalten, dass sie uns allen gut tut – zum Beispiel indem die allgemeine Arbeitszeit auf 30 Stunden reduziert wird.

Was hat sie gesagt?

Verena Kast war zuerst sehr zurückhaltend, sich auf politische Fragen einzulassen. Sie ist danach aber richtiggehend in einen „Gesprächsflow“ gekommen und hat mir erklärt, dass die ganze Welt natürlich besser wäre, wenn wir mehr Zeit für unsere Beziehungen hätten. Also, ein klares Ja zu Teilzeitarbeitsmodellen und darüber hinaus Zeit für freiwilliges Engagement in der Gesellschaft. (lacht) Sie hat nicht umsonst selbst ein Buch geschrieben, das den Titel trägt: „Seele braucht Zeit“. Ich finde in dem Zusammenhang übrigens auch das Gespräch mit der Ergotherapeutin Martha Pany sehr schön. Sie hat auch Psychiatrieerfahrung und hat daher am eigenen Leib erlebt, dass Genesung einfach Zeit braucht. „Leistung ist nicht der Gott, den wir anbeten sollten“, ist ein Satz aus dem Gespräch, der mir in Erinnerung geblieben ist.

Es scheint eine Erkenntnis zu sein, die sich durch die meisten Gespräche zieht – nämlich, dass wir uns nicht nur im Rahmen einer Psychotherapie, sondern im Leben insgesamt mehr Zeit nehmen sollten für unsere Gefühle und unsere Beziehungen …

Absolut. Unser Gesundheitssystem sieht es leider nicht vor, dass Psychotherapie so viele Stunden eingeräumt werden, wie es oft bräuchte, um innerlich zu wachsen, sagt der etwa Psychoanalytiker und Theologe Eugen Drewermann. Er vergleicht sich selbst übrigens mit einem Bademeister, der so lange am Rand des Beckens bleibt und den Stock hinhält, bis eine Person selbständig schwimmen kann. Wenn dies glückt, kann sich der Bademeister etwas zurückziehen. Er bleibt aber immer noch im Hintergrund präsent und kann im Notfall wieder kontaktiert werden.

Sie zitieren in diesem Zusammenhang auch Verena Kast, die manche ihrer Klientinnen und Klienten offensichtlich auch nach 30 Jahren noch sieht. Das ist doch sehr weit weg von unserer heutigen Behandlungssituation …

Das mag stimmen, aber finden Sie die Vorstellung nicht auch schön, dass da jemand im Hintergrund sozusagen erhalten bleibt – wie gute Eltern, die einen ermutigen, Schritte in die Selbständigkeit zu machen, aber doch nie ganz verschwinden? Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die sich so verstehen und arbeiten, verdienen Bewunderung. Das geht weit darüber hinaus, eine gewisse Störung mit einer gewissen Technik zu behandeln. Wir sprechen dann auch nicht mehr nur von Symptomen und Diagnosen, sondern es geht ganz wesentlich um die Frage, was verbindet uns als Menschen.

Diese Gedanken lassen mich an die Vertreterinnen und Vertreter der Antipsychiatrie denken. Sind Ihre Gespräche eigentlich vor diesem Hintergrund zu sehen?

Die Antipsychiatrie ist mir zu weit hergeholt. Auf was ich mich gerne beziehe, ist die anthropologische Psychiatrie, die den Menschen mit seinen individuellen Ressourcen sieht. Dazu gehören auch Schlagworte wie Recovery oder Windhorse. Ich spreche in meinem Buch übrigens auch mit zwei Windhorse-Betreuerinnen, Klaudia Gehmacher und Michaela Nowak. Man versteht darunter den Ansatz des US-amerikanischen Psychiaters und Psychoanalytikers Edward M. Podvoll, Menschen mit Psychose-Erfahrung in ihrem Alltag achtsam zu begleiten. Windhorse-Betreuerinnen und -betreuer meditieren miteinander, um ihr Bewusstsein zu kultivieren. In der Betreuung ihrer Klientinnen und Klienten versuchen sie dann möglichst präsent zu sein und sogenannte Inseln der Klarheit zu entdecken und zu fördern.

Dieses Gespräch zeigt, wie viele verschiedene Aspekte von Psychotherapie im Buch aufgegriffen werden. Mich persönlich haben die beiden Interviews zu Psychotherapie und Familienforschung sehr angesprochen. Gerade in den letzten Jahren wird vermehrt der Aspekt der transgenerationalen Weitergabe von Traumata immer populärer. Was sagen Ihre Interviewpartner dazu?

Sowohl Wolfgang Krüger als auch Bernhard Schlage, zwei deutsche Psychotherapeuten, antworten darauf mit recht plastischen Geschichten von Menschen, die sich in der Gegenwart in ihrer Lebensführung diffus blockiert fühlen. Durch das Nachforschen in der Familiengeschichte, das Erkennen von Familienwerten, -tabus, aber auch Familienschätzen kommen sie zum Beispiel ihrer Mutter oder ihrem Vater, aber auch den Generationen davor näher. Das wiederum führt zu großen Veränderungen in ihrem eigenen Leben.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Wer hat Sie in den Gesprächen am meisten überrascht?

Da muss ich nochmals zu Eugen Drewermann zurückkommen. Während unseres Gesprächs erlebte ich ihn am Anfang sehr stark in einer Art Vortragsmodus. Es war dementsprechend schwer, mit eigenen Fragen einzuhaken. Als wir jedoch anfingen, über den Aspekt der Märchendeutung zu sprechen, veränderte sich unser Gespräch. Drewermann erzählte mir das Märchen vom Aschenputtel so, dass ich danach Tränen in den Augen hatte und mich persönlich berührt fühlte. Ich habe mich übrigens immer wieder im Laufe der Gespräche ähnlich beschenkt gefühlt. Daher ist das Buch für mich auch so etwas wie eine „Schatzkiste“ besonderer Momente und tiefgründiger Einsichten. Die ersten Rückmeldungen einiger Leserinnen und Leser haben mir bestätigt, dass dies auch bei der Lektüre ankommt – das freut mich besonders!

Link zum Buch: https://www.picus.at/produkt/unterwegs-im-weiten-land/